Fast ungewohnt, aber heute heißt es frei nach Heidi Klum: „3. Advent ich habe leider kein Foto für dich.“ Dafür gibt es eine Geschichte:

Auf der Suche nach dem Weihnachtsgefühl


Samstagmorgen – ich schrecke aus dem Schlaf. Aber nicht die schummrigen, löchrigen Erinnerungen einer alkoholschweren Nacht treiben mir den Schweiß auf die Stirn. Gestern Abend war ich abstinent. Und mein Kopf ist klar. Wahrscheinlich nehme ich daher dieses Gefühl in meinem Körper so deutlich war. Oder besser seine Abwesenheit. Denn mir wird in ungefilterter Deutlichkeit bewusst: Morgen ist der 3. Advent und mir fehlt jegliches Weihnachtsgefühl.
Da muss Abhilfe her. Ein Internet-Schnellsuche empfiehlt Wetzlar als sehr weihnachtlich-atmosphärisch. Wetzlar? Da war ich noch nie. Das ist nicht weit. Also hin. Beim Ausstieg am Bahnhof werde ich vom Menschenstrom fast automatisch in die angrenzende Shopping Mall gespült. Während ich vor einem Burgerbräter stehe und mich orientiere, strömen unzählige Impulse auf mich ein: Dudelnde Weihnachtsmusik; Schneeflocken, Rentieren und Weihnachtsmännern, die Rabattschlachten verkünden; verkleidete Verkäufer; Menschenmassen, die sich auf Rolltreppen drängeln; Kinder, die lustvoll quengeln; Menschen, die unter der Last von Einkaufstüten fast zusammenbrechen und überall Hektik. Weihnachten kündigt sich mit aller Macht an. Aber das Weihnachtsgefühl kann ich im Gedränge nicht entdecken.

Szenenwechsel: Ich folge der Beschilderung zur historischen Innenstadt, rund um den Dom lädt ein Weihnachtsmarkt zum Besuch ein. Die Holzhütten schmiegen sich an den Dom. Der Boden ist mit Rindenmulch ausgestreut. Dieser schmiegt sich gemütlich, regenfeucht an die Schuhsohlen. Die leicht schwammigen Geräusche verstärken das beruhigende Laufgefühl. Entspannung – zumindest in den Füßen. Gerüche nach Glühwein, Bratwürsten, Fritten und Lebkuchen liegen in der Luft. Und füllen den Markt. Allerdings ist sonst nicht viel los, vor den Buden verlieren sich nur wenige Menschen. Eigentlich klar, der Rest kauft ja ein. Fast scheint es so als würden die Lichter an den Weihnachtsbäumen ein wenig traurig blinken und die Musik etwas melancholisch leihern.

Noch immer Weihnachtsgefühl-los blicke ich mich um. Ein Hinweisschild verweist auf das Jerusalemhaus. Eine Reise nach Jerusalem? Wenn das kein vielversprechendes Omen ist. Durch die historischen Gassen mit Fachwerkhaus-Fassaden mache ich mich auf den Weg. Eine Viertelstunde später stehe ich vor dem wunderschönen Fachwerkhaus. Ein zweiter Blick bringt allerdings Ernüchterung. Karl Friedrich Jerusalem, nach dem das Haus benannt ist, hat zwar wichtigen Einfluss auf das literarische Werken eines gewissen Johann Wolfgang von Goethe gehabt. Sein als tragisch beschriebener Selbstmord im Jahr 1772 lässt sich aber in keinerlei Verbindung zu Weihnachten setzten. Enttäuscht blicke ich mich um und stehe vor dem Adventsdorf. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Ansammlung von Holzhütten, die eine traumhafte Kulisse für Essen, Trinken und Kunsthandwerk bieten. Wenn es ein Versteck für das Weihnachtsgefühl gibt, dann doch wohl hier oder? Allerdings spiegeln die gelangweilten Gesichter der Kunsthandwerker das mangelnde Interesse der Kundschaft wieder, dafür schauen die Verkäufer an den Fress- und Saufbuden gestresst. In dieser Gefühlsgemengelage erblicke ich ein Schild: „Große Krippenausstellung in der Unteren Stadtkirche“. Obwohl ich vor Jahren aus der Kirche ausgetreten bind, verleitet mich dieses Schild zum Eintreten. Ich bewundere die verschiedenen Krippen und wundere mich – vor besonders kitschigen Krippen – über die Bandbreite des menschlichen Schönheitsempfindens. Immerhin herrscht in der Kirche Ruhe. Aber auch hier komme ich nicht so wirklich zur Besinnung.

Daher beschließe ich die Suche abzubrechen. Wenn sich das Weihnachtsgefühl so gut versteckt, dann kann es mich mal. Da fahre ich eben nach Hause und mache mich auf die Suche nach einer leckeren Tiefkühlpizza im Supermarkt. Gesagt getan, eine Weile später stehe ich vor einem Supermarkt im heimatlichen Marburg. Einem spontanen Impuls folgend mache ich mich aber doch noch auf den kurzen Umweg zum Rathausplatz. Rings um die wenigen Buden drängt sich eine beeindruckende Menge. Bei genauerer Beobachtung zeigt sich, dass dies vor allem dem Glühweinstand geschuldet ist. In seinem Dunstkreis herrscht ein dichtes, lautes Treiben. Es ist nahezu kein Durchkommen. Während ich nur kurz innehalte, um einen Blick durch die Reihen streifen zu lassen, merke ich, wie sich der Duft von heißem Kakao mit Rum in meine Nase stiehlt. LUMUMBA. Diese Buchstaben blitzen plötzlich als Gedanke in meinem Kopf auf. Wehrlos dränge ich mich durch die Menge näher zur Bude und während ich noch nicht ganz begreife, was gerade geschieht, höre ich mich sagen: Einen Kakao mit Rum bitte. Zwei Minuten später halte ich eine Tasse mit der warmen, schlammig-braunen Flüssigkeit in den Händen. Und mit dem ersten Schluck Lumumba passiert es. Erinnerungen strömen auf mich ein. Erinnerungen an nette Menschen und entspannte vorweihnachtliche Heißgetränkeräusche. Ich leere die Tasse und lassen dem Kakao mit der besinnlichen Zutat noch etwas Whiskey-Apfelpunsch und triefig-fettigen Fritten folgen. Kurz darauf merke ich, dass sich mit mir etwas verändert. Meine Wahrnehmung wird watte-weich und meine Magen beginnt unter samten Protest mit seiner Arbeit. Ich bin glücklich. Denn ich weiß, da ist es, das Weihnachtsgefühl.

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