16. & 17.05.2025 / Banyuwangi, Java, Indonesien: Während andere schlafen, beginnt eine Reise in die Dunkelheit. Im Krater des Vulkans Ijen erwartet den Besucher eine unwirkliche Szenerie: das geisterhafte „Blaue Feuer“ und ein gefährlicher Kratersee. Doch diese Landschaft verbirgt eine andere, viel tiefere Geschichte: das harte Schicksal der Schwefelträger. Ihre physische Kraft und ihre Ausdauer stehen in einem starken Kontrast zu den Touristenmassen, die jede Nacht auf der Suche nach einem Abenteuer in den Krater klettern.

Es ist 23:45 Uhr. Während meine Familie längst im Hostelzimmer schläft, sitze ich davor auf einer kleinen Bank und kontrolliere ein letztes Mal meine Kameratasche und den Rucksack. Stirnlampe, Wasser, Ersatzbatterien – alles da. In wenigen Minuten wird es losgehen. Für Mitternacht bin ich mit Eram*, dem Mann der Hostelbetreiberin, verabredet. Er wird heute Nacht für den Ausflug zum Vulkan Ijen mein Fahrer sein.
Pünktlich treffen wir uns am Gittertor zur Straße. Ich steige zu ihm ins Auto, und er drückt mir zwei Dinge in die Hand: ein kleines Lunchpaket und eine Atemschutzmaske. Sie wird später noch eine wichtige Rolle spielen. Dann sagt er: „Etwa eine Stunde brauchen wir bis zum Parkplatz – vorher halten wir noch für den Gesundheitscheck.“
Um das Gebiet rund um den Vulkan Ijen überhaupt betreten zu dürfen, brauchen Besucher ein Gesundheitszertifikat. Dieses muss vorab organisiert werden. Nach rund 15 Minuten Fahrt stoppen wir an einer kleinen Privatklinik. Davor parkt ein Kleinbus und es warten schon einige ausländische Touristen. Zum Glück wurde ich vorangemeldet und wir sind früh dran. Während ich nur relativ kurz warten muss, bildet sich hinter mir eine Schlange mit neu ankommenden Touristen.
Der „Gesundheitscheck“ ist schnell erledigt: Blutdruck messen, ein paar Fragen zu Asthma, Körpergröße, Gewicht. Ich antworte ehrlich – keine Vorerkrankungen – und bekomme ein offizielles Formular ausgehändigt. 26.000 Rupien kostet das Ganze, umgerechnet etwa ein Euro und fünfzig Cent.
Eram erklärt mir, dass diese Klinik am günstigsten sei. Andere verlangen mehr, das Krankenhaus in Banyuwangi sogar das Doppelte.
Zurück im Auto, fahren wir weiter in die dunkle Nacht hinein. Eram erzählt mir unterwegs vom Ijen, von seiner wirtschaftlichen Bedeutung – und davon, dass hier aufgrund der fruchtbaren Vulkanasche Kaffee angebaut wird. Ich sehe nichts von der Landschaft, nur hin und wieder blitzen die Umrisse von Bäumen im Scheinwerferlicht auf. Die Dörfer, durch die wir fahren, liegen im Tiefschlaf. „So war es auch schon in meiner Jugend“, sagt Eram. Er ist hier bei seinen Eltern aufgewachsen, bevor er in die Stadt zog.
Die Straße wird steiler und wir fahren durch Regenwald. Nun wird es feuchter und kühler. Gegen 1:00 Uhr erreichen wir den Parkplatz am Eingang zum Nationalpark. Noch stehen hier nicht viele Fahrzeuge und ich wundere mich über die Anzahl an Teestuben. Eram zeigt auf eine davon und sagt: „Dort drüben können wir warten – der Park öffnet erst um zwei Uhr.“
Mein Guide Adi* ist auch schon da. Während er mit meinem Gesundheitsformular noch einige Papiere ausfüllt, setzen Eram und ich uns draußen auf eine Bank und wärmen uns mit heißem Tee. Nun spüre ich die Anspannung doch recht deutlich. Vor allem sorge ich mich, ob ich die Gasmaske auch trotz Brille benutzen kann. Nach und nach nimmt das Gedränge zu. Inzwischen wird mir klar, warum es hier so viele Teestuben und Verkaufsstände gibt: Hunderte Menschen strömen herbei – vor allem indonesische Touristen, aber auch internationale Abenteurer. Auf dem Parkplatz drängen sich Jeeps und Kleinbusse. Geschäftig verteilen Guides Stirnlampen und Gasmasken.
Um zwei Uhr ist es so weit. Eram geht zurück zum Auto. Dort wird er schlafen und auf mich warten. Adi und ich machen uns auf den Weg zum Eingang des Nationalparks. Vor uns: ein Strom von Menschen, der sich langsam in Bewegung setzt.
Stirnlampen flackern wie Glühwürmchen in der Nacht, Stimmen vermischen sich mit dem Knirschen von Schuhen auf Vulkangestein. Die Luft ist kühl, aber mir wird schnell warm. Schon bald binde ich mir meine Fleece-Jacke um die Hüfte. Adi sagt, dass heute Nacht geschätzt um die tausend Menschen in den Krater steigen wollen.
Der Pfad ist überraschend gut begehbar. Ein breiter Weg aus gestampfter Erde und Fels, kleinen Steinchen und Regenauswaschungen. Den Tag über hatte es geregnet, allerdings stoppte der Regen rechtzeitig. Es ist nicht besonders schlammig und rutschig. Doch je weiter wir gehen, desto steiler wird es. Die Serpentinen winden sich nach oben, die Schritte werden schwerer, das Atmen tiefer. Immer wieder überholen wir kleinere Gruppen, die etwas längere Pausen einlegen. Mir ist das ganz lieb, so reißt das Feld der Abenteurer etwas auseinander. Bald sind Adi und ich als Zweier-Team unterwegs.
Das einzige Licht kommt von unseren Stirnlampen, rund fünf bis zehn Meter können wir sehen. Außerhalb der schmalen Lichtkegel liegt alles in Dunkelheit. Kein Geräusch außer Schritten und dem Blutrauschen im Ohr. Keine Vögel, keine Insekten. Die Welt um uns scheint stillgelegt.
Nach etwa anderthalb Stunden erreichen wir den Kraterrand. Der Wind ist plötzlich stärker, kühler. Wir streifen unsere Jacken wieder über. Adi zeigt in die Tiefe. „Dort unten ist das blaue Feuer“, sagt er, und ich sehe – nichts. Nur Dunkelheit. Aber die Kamera sieht mehr: Ich stelle sie auf einen Pfosten eines kleinen Zaunes. Langzeitbelichtung, dreißig Sekunden – und auf dem Display erscheint das erste schwache, geisterhafte Blau, das zwischen den Felsen flackert.
Dafür nehmen die meisten Menschen hier heute Nacht die Mühen auf sich. Für das sogenannte „blaue Feuer“. Es entsteht, wenn aus dem Vulkan Schwefelgase mit hohem Druck austreten und sich beim Kontakt mit der Luft entzünden. Es sieht aus wie blaue Lava, ist aber in Wahrheit brennendes Gas. Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, wo man dieses Phänomen bestaunen kann: hier am Ijen in Indonesien ist es besonders eindrucksvoll.
„Noch 45 Minuten bis da unten“, sagt Adi. Noch einmal durchschnaufen und unser Weg in den Krater beginnt.
Der Abstieg ist kein Spaziergang. Zunächst gibt es zwar noch eine Art Handlauf, aber der Weg ist kaum als solcher zu erkennen – ein chaotisches Gefüge aus scharfkantigen Felsen, losen Steinen und rutschigem Geröll. Ich gehe langsam, fast tastend, das Licht meiner Stirnlampe flackert über schmale Tritte, schiefe Kanten, staubige Abgründe. Hier sind wir allerdings nicht mehr alleine. Wie auf einer Ameisenstraße laufen vor und hinter uns Hunderte von Menschen.
Rund 45 Minuten brauchen wir bis zum Boden des Kraters. Unten empfängt uns eine ganz eigene Welt – ein surrealer Ort aus Fels, Rauch und Licht. Das blaue Feuer, das eben noch winzig auf dem Kameradisplay flackerte, wabert jetzt direkt vor mir. Nun ja, zumindest fast direkt. Vor den blaue Flammen, die über die Steine zu fließen scheinen und wie gespenstisches Bühnenlicht durch die Gaswolken leuchten, drängeln sich die Selfie-Jäger. Teils von ihren Guides zu ihrem Glück gedrängt, teils freiwillig, knien sie vor den Flammen, um für Fotos und kurze Videos zu posieren. Diese Szene ist vollkommen unwirklich – und zugleich magisch.
Aber es ist eine trügerische Magie. Die Luft hier unten ist schwer, sie beißt in Nase und Lunge. Dichte Schwefelwolken steigen auf, und sobald der Wind dreht, rollen sie direkt auf uns zu.
Adi ruft mir zu: „Maske auf! Augen zu!“ Ich ziehe die Atemschutzmaske hoch, kneife die Augen zusammen. Der Dampf brennt. Wer ungeschützt hier unten steht, kann kaum atmen – die Gase sind ätzend, potenziell lebensgefährlich.
Ich bin dankbar für meine Maske und glücklich, dass sie trotz Brille so gut funktioniert.
Uns wird das Gedränge schnell zu viel und ich gehe mit Adi noch ein Stück weiter in den Krater hinein. Hier stehen wir dann am Säuresee. Der rund ein Kilometer breite See gehört mit einem extrem niedrigen pH-Wert von unter 0,5 zu den sauersten und gefährlichsten Seen der Erde. Aufgrund seines Säuregehalts wird er manchmal auch als größte natürliche Batterie bezeichnet. Jetzt im Dunkeln wirkt er fast normal. Seine giftgrüne Farbe ist nicht zu erkennen, nur sein kochendes Wasser verrät ihn. Als wir uns an seinem Ufer umdrehen, wird uns die schiere Masse der Besucher in dieser Nacht sehr deutlich. Wie ein silbernen Strom, der nicht abreißt, winden sich die Lichter von eintausend Stirnlampen entlang der Kraterwand.
Auf dem Weg zurück zum blauen Feuer bemerke ich Männer, die sich eine spezielle Einkommensquelle aufgebaut haben. Sie schmelzen den Schwefel, gießen ihn in Formen und verkaufen daraus gefertigte Figuren – Vulkane, Herzen, Schildkröten – an Touristen, hier unten im Krater und am Wegesrand. Die Männer sind ehemalige Minenarbeiter. Sie arbeiten nun in einer Fabrik und kommen an ihren freien Tagen her, um hier zusätzliches Geld zu verdienen. Oft übernachten sie in einfachen Unterschlüpfen aus Planen direkt im Krater. Während ich einen der Schwefelgießer bei seiner Arbeit fotografiere, werde ich noch auf einen anderen Mann aufmerksam: Einen Schwefelträger. Er ist der heimliche Hauptgrund warum ich hier bin.
Vor einiger Zeit hatte ich eine Dokumentation über diese Männer gesehen. Sie tragen Körbe, gefüllt mit hellgelbem Schwefelgestein, auf ihren Schultern – 70, manchmal 80 Kilogramm schwer. Bis zu zweimal am Tag steigen sie in den Krater hinab, laden ihre Last auf und tragen sie dann in stundenlanger Arbeit den Berg hinauf. Ohne Maske, oft mit Flipflops oder einfachen Gummistiefeln. Ihr Einkommen ist gering: 1.400 indonesische Rupien – rund sieben Eurocent – pro Kilo. Auch die durchschnittliche Lebenserwartung ist erschreckend niedrig. Aufgrund der giftigen Gase und der körperlichen Anstrengung liegt sie etwa bei 50 Jahren.
Ich beobachte den Mann, wie er sich auf den Aufstieg vorbereitet. Sein Doppelkorb ist bereits mit Schwefelbrocken gefüllt. Er zieht sein Hemd aus und raucht noch eine Zigarette. Ich fotografiere, halte fest, was in der Dunkelheit so atmosphärisch ist: die Ruhe in seinem Gesicht, die Präzision seiner Bewegungen, die Schwere seiner Last.
Der Schwefelträger hebt seinen mit gelben Brocken beladenen Korb an, legt ihn sich über die Schulter und beginnt den Anstieg. Adi und ich folgen ihm, mit Kamera und Stirnlampe, aber ohne Last – und trotzdem muss ich mich auf jeden Schritt konzentrieren. Der Weg ist steil, uneben, rutschig. Ich muss ständig aufpassen, wohin ich trete, während ich gleichzeitig fotografiere. Er hingegen steigt mit einer Sicherheit und Ausdauer, die ich bewundere.
Auf dem Weg herrscht weiterhin starker Verkehr. Nach oben und nach unten. Auch wenn ein Großteil der Menschen schon wieder aufsteigt, so kommen uns noch unzählige andere Menschen entgegen. Touristen, die noch absteigen, Handys auf Kamera-Modus. Manche bleiben stehen, lassen sich mit dem Schwefelträger im Hintergrund ablichten – ein Instagram-Motiv, bei dem kaum jemand fragt, wer da eigentlich durchs Bild läuft.
An einigen Engstellen wird es brenzlig. Die Guides fordern die Touristen auf, Platz zu machen für die Träger.
„Give way for the miners“, hallt der Ruf. Das gelingt nicht immer. Einige weichen nur zögerlich aus, zu panisch klammern sie sich am Geröll fest. Andere scheinen nicht zu begreifen, wie ernst es ist, wenn ein Mann mit 80 Kilo auf der Schulter plötzlich keinen Platz mehr hat. Und doch – überraschenderweise läuft vieles reibungslos.
Vielleicht, weil die Träger mit stoischer Gelassenheit durch den Trubel steigen, vielleicht, weil ihre Präsenz eine stille Autorität hat, die auch in der Dunkelheit spürbar ist.
In regelmäßigen Abständen legen die Schwefelträger Pausen ein. Für mich sind das gute Fotomomente. Hier kann ich mir einen sicheren Stand suchen und mein Motiv in Ruhe wählen. Bei einer dieser Pausen beginnt der Träger, dem Adi und ich folgen zu singen. Adi erklärt mir, dass dieser Mann ein bekannter Sänger ist. Gut gelaunt stimmen einige Indonesier in den Gesang ein. Touristen bitten den Träger um ein Foto. Auch ich frage nun nach einer Fotoerlaubnis. Mit Adis Hilfe entwickelt sich daraus sogar ein Gespräch. Der Mann hat 1996 im Alter von 25 Jahren als Träger angefangen. Mit seinen 53 Jahren ist er nicht nur über dem Altersschnitt, er wirkt auch topfit, ja geradezu athletisch. Und dass, obwohl er täglich eine Packung Zigaretten raucht, auch während des beschwerlichen Aufstiegs. Gegen die Schwefelwolken schützt er sich nur mit seinem T-Shirt. Mir fällt auf, dass er mehrere Schlucke eine weißen Flüssigkeit trinkt.
„Milch, Honig, Eier und Ginger“, erklärt er lachend. Dies ist sein ganz persönlicher Energydrink.
Dann berichtet er stolz, dass er schon in einer spanischen Dokumentation mitgewirkt hat. „Google mal Sunato Ijen“, fordert er mich auf. „Dann findest du mich ganz schnell.“ Das verspreche ich. Dann setzen wir unseren Anstieg gemeinsam in Etappen fort.
Kurz vor dem Kraterrand lassen wir Sunato Ijen hinter uns. Er wird seine Last nun weiter bis zur Abladestation schleppen. Oben angekommen werfen wir einen Blick zurück. Der Krater liegt nun vollständig sichtbar unter uns – eine Mondlandschaft mit giftgrünem See, dampfenden Gaswolken, gelbem Gestein und den kleinen Punkten, die Menschen darstellen. Es ist wunderschön. Und unwirklich.
Hier oben am Kraterrand treffen wir auf eine weitere Spielart des Vulkantourismus: Männer, die uns fragen, ob wir einen Helikopter brauchen. So nennen sie ihre einfachen Metallkarren. Früher haben diese Männer auch als Schwefelträger gearbeitet. Nun kutschieren sie für einen deutlich höheren Lohn von bis zu 80 Euro, aber immer noch mit vollem Körpereinsatz, Touristen den Berg hinauf oder hinunter. Überraschend viele nehmen dieses Angebot an. Sie sitzen in den Karren, stumm, blass vor Erschöpfung. Einige schlafen. Andere scrollen auf ihren Handys, schicken Fotos in alle Welt.
Dieses Schauspiel können wir auf dem ganzen Rückweg zum Parkplatz beobachten. Immer wieder überholen uns die Männer mit ihren Karren und der Kundschaft. Einmal sehe ich auch, wie drei Männer einen Mann den Berg hochziehen. Jetzt bei Tageslicht kann ich außerdem sehen, auf welchen Pfaden und durch welche Landschaft wir auf dem Hinweg gelaufen sind. An einigen Stellen geht es neben dem Weg steil bergab. Nicht allzu weit entfernt können wir hinter grünen Tälern die Kegel weiterer Vulkane sehen. Nach rund 90 Minuten erreichen wir unseren Startpunkt wieder.
Hier unten merke ich, wie erschlagen ich von der körperlichen Anstrengung bin. Meine Waden zittern. Aber viel mehr beschäftigt mich das, was ich gesehen habe. Das blaue Feuer, die unglaubliche Landschaft – aber vor allem die Männer, die hier Tag für Tag in diesem Krater arbeiten. Ohne Maske, ohne Schutz, mit einer körperlichen Leistung, die kaum jemand von uns nachvollziehen kann.
Der Vulkan Ijen ist ein Naturwunder. Aber er ist auch ein Ort der Kontraste. Wilde Schönheit trifft auf Anstrengung, Tourismus auf harte Arbeitsrealität. Und vielleicht ist es genau das, was mich so berührt hat in dieser Nacht: Dass beides nebeneinander existiert – und sichtbar wird, wenn man genau hinschaut.
*Namen geändert





















